Gut betreut
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Die Kinderbetreuung in der DDR wird in der Rückschau oft gelobt, während der Westen seinerzeit hinterherhinkte. Was die Betreuungsquoten angeht, hat sich nun, zum 30. Jubiläum der Wiedervereinigung, einiges angeglichen und zum Positiven entwickelt. Aber der Schein trügt.
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8.30 Uhr vor der Kinderkrippe in Scheuring, Landsberg am Lech: An der Tür staut es sich. Kinder rennen in Gummistiefeln umher, sitzen auf dem Boden, klammern sich an die Hände ihrer Eltern, die mit leicht gestresstem Blick auf die Uhr schauen und Abschiedsküsse verteilen. Bei einigen dauert der Abschied länger, andere Kinder sind sofort verschwunden.
Ludwig ist 22 Monate alt und geht seit seinem ersten Geburtstag hier in die Krippe des Bayrischen Roten Kreuz. Um 8.30 Uhr, wenn alle Kinder in der Krippe sein müssen, wartet er schon seit einer Stunde auf seine Spielkamerad:innen. An den Tagen, an denen Ludwigs Mutter arbeiten muss, ist er hier meistens der erste, zusammen mit zwei anderen Kindern, deren Eltern schon früh auf der Arbeit sein müssen. „Momentan macht er wenig Theater“, sagt seine Mutter Claudia E. „Er will lieber rein, als dass er wieder mit mir mitkommen will. Hier hat er seine Kumpels und Freunde und seinen Spaß.“
Wenn Claudia E. ihren Sohn mit dem Buggy in die Kita gebracht hat, läuft sie anschließend das Stück zurück nach Hause, steigt ins Auto und fährt zur Arbeit. Bis 13 Uhr, denn spätestens um 14 Uhr muss Ludwig wieder abgeholt werden - länger hat die Kita nicht geöffnet. So unflexibel zu sein, sei manchmal ein ziemlicher Nachteil, sagt Claudia E. Gerade in Zeiten, in denen alle sich ein wenig um ihren Arbeitsplatz sorgten.
Im Durchschnitt werden 93 Prozent der Kinder in Deutschland ab dem dritten Lebensjahr außerhalb der Familie betreut. So geht es aus Daten des Statistischen Bundesamtes vom März 2018 hervor.*
Scheuring, der kleine Ort in Landsberg am Lech, in dem Claudia E., Ludwigs Papa und Ludwig zuhause sind, ist da keine Ausnahme. Landsberg am Lech liegt sogar ein bisschen über dem bundesdeutschen Schnitt der Betreuungsquote: 94,7 Prozent der Kinder werden hier institutionell oder durch eine Tagespflegeperson betreut
*Zum Zeitpunkt der Recherche lagen die aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes für die Betreuungsquote noch nicht vor. Im März 2020 lag die durchschnittliche Betreuungsquote in Deutschland bei 92,5 Prozent.
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In der Sächsischen Schweiz-Osterzgebirge liegt die Quote ebenso hoch: Im Alter von 3 Jahren gehen so gut wie alle Kinder des Landkreises in den Kindergarten oder sind anderweitig institutionell untergebracht.
Aber was ist mit der Betreuung von jüngeren Kindern, wie Ludwig? Nur 22,1 Prozent der Kinder zwischen 1 und 3 werden in Landsberg am Lech außerhalb der Familie betreut. In der Sächsischen Schweiz-Osterzgebirge sind es mit 52,5 Prozent doppelt so viele.
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Seit 2013 gibt es in Deutschland einen flächendeckenden Rechtsanspruch auf Kita-Betreuung. Das heißt: Für jedes Kind zwischen 1 und 3 Jahren muss ein Kita-Platz verfügbar sein. Dass Familien und Eltern diesen Anspruch aber bundesweit sehr unterschiedlich wahrnehmen, zeigt ein Blick auf die Zahlen: In Ostdeutschland gehen durchschnittlich mehr als die Hälfte aller Kinder unter drei Jahren in eine Tagesbetreuung, in Westdeutschland weniger als ein Drittel. Es verläuft eine Grenze zwischen den Bundesländern - die Differenz zwischen ehemals Ost und West beträgt 24,6%.*
Warum ist das so?
* Aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge, die zum Zeitpunkt der Recherche noch nicht vorlagen, ist die Differenz etwas geringer: Demnach wurden im März 2020 in Ostdeutschland durchschnittlich 52,7 Prozent der Kinder außerhalb der Familie betreut, im Westen waren es 31,0 Prozent.
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In vielen Fällen zwingt der Geldbeutel Eltern und Familien, ihre Kinder institutionell betreuen zu lassen, damit sie arbeiten gehen und für den Lebensunterhalt sorgen können. So auch bei Claudia E., gelernte Hotelfachfrau und studierte Touristikassistentin. Zwar wohnt sie in Bayern damit im ehemaligen Westen, dennoch kennt sie die finanziellen Schwierigkeiten: „Wir haben mal überlegt, ob vielleicht mein Freund in Teilzeit gehen könnte, aber sein Einkommen war fast 800 Euro höher als meins. Und mein Freund hat dann eben nur zwei Monate Elternzeit genommen. Aber da hat man auch während dieser Zeit gemerkt, dass es finanziell echt mies war."
Die Folge: Der Elternteil, der weniger verdient (strukturell bedingt meistens die Frau, wie auch im Fall von Claudia E.) bleibt mit dem Kind Zuhause. Zumindest eine Zeitlang und solange die Familie es sich leisten kann.
„Manchmal ist es dann schwer für die Eltern, das auszuhalten, aufgrund ihrer finanziellen Situation das Kind in der Kita abzugeben“, sagt Gerlind Große.
Für Claudia E. gab es aber auch noch andere Gründe: „Während der Elternzeit habe ich gemerkt: Einfach nur Zuhause sitzen, alleine mit dem Kind, das ist auch nicht so meins. Ich wollte mich auch wieder mit Erwachsenen austauschen und meiner beruflichen Tätigkeit nachkommen“, sagt sie. Dann kam Ludwigs erster Geburtstag. Er durfte in die Scheuringer Krippe aufgenommen werden – und Claudia E. konnte wieder zur Arbeit gehen. „Wir haben auch festgestellt, dass der Ludwig einfach andere Kinder braucht, um irgendwie ausgeglichen zu werden. Und dann haben wir gedacht, die Krippe ist eine gute Gelegenheit, dass er unter Kinder kommt und sich da eben austoben kann.“
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Beim Thema Kinderbetreuung ist häufig von sogenannten kompensatorischen Effekten die Rede: Kinder, vor allem aus sozial und finanziell benachteiligten Familien, sollen durch Betreuungsangebote gefördert werden. Was Zuhause vielleicht nicht gewährleistet werden kann, soll in der Krippe oder der Kita geschehen.
„Meines Erachtens ist das viel Augenwischerei“, sagt Große. „Denn wenn wir wirklich kompensatorische Effekte erzielen wollten, dann müssten wir eine viel bessere Qualität in den Kitas ermöglichen. Zum Beispiel durch einen besseren Betreuungsschlüssel.“
Betreuungsschlüssel vs. Personalschlüssel
Soll heißen: Möglichst wenige Kinder pro pädagogische Fachkraft. Hier bringe es nicht viel, den Personalschlüssel unter die Lupe zu nehmen, so Große, denn der sage wenig darüber aus, um wie viele Kinder sich ein:e Erzieher:in tatsächlich kümmern muss. Schließlich gehören auch Team- und Elterngespräche zum Alltag in der Kita, genauso wie Fortbildungen und verschiedene Verwaltungsarbeiten, die die Fachkräfte bewerkstelligen müssen. Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung legt ebenfalls nahe, die Fachkraft-Kind-Relation zu betrachten, wenn es um die unmittelbare pädagogische Arbeitszeit geht.
Ein Blick auf die Daten zeigt: Die Unterschiede in der Betreuungsqualität verlaufen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Während ein:e Krippen-Erzieher:in in Sachsen im Schnitt zwischen 8 und 10 Kinder betreut, sind es in Bayern zwischen 5 und 8 Kinder pro Erzieher:in. Dies geht aus den entsprechenden Länderreports zu Frühkindlichen Bildungssystemen 2019 der Bertelsmann Stiftung hervor. „Was die Betreuungsqualität angeht, sind fast alle westdeutschen Länder besser aufgestellt“, so Große.
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Um die Kita-Qualität zu verbessern, setzt sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) seit Jahren dafür ein, Betreuungsstandards zu vereinheitlichen – am besten per Gesetz. Gefordert wird eine Fachkraft-Kind-Relation von 1:2 für unter Einjährige, 1:3 für Ein- bis Dreijährige; 1:8 für Drei- bis Fünfjährige und 1:10 für Kinder ab sechs Jahren.
Die Lösung: mehr Fachkräfte. Aber die fehlen bundesweit. Die Bertelsmann Stiftung geht davon aus, dass mehr als 106.500 Fachkräfte, mit denen eine kindgerechte Personalausstattung ermöglicht werden könnte, schlicht nicht vorhanden sind. Dazu kommt, dass gerade sehr viele Fachkräfte in Rente gingen und nicht genug Personal nachkomme, sagt Gerlind Große. „Eigentlich muss der Erzieher:innenberuf auch stärker akademisiert werden, weil sich der Anspruch an das, was Kitabetreuung leisten soll, sehr stark verändert hat. Man erwartet ganz viel, was in der frühen Bildung alles passieren soll, dass das die Fachkräfte alles reißen sollen. Entsprechend brauchen sie da auch eine höherrangige Ausbildung – und dementsprechend eine bessere Bezahlung.“
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Woher das Geld für bessere Betreuung kommen soll? Das ist deutschlandweit extrem unterschiedlich. Zuzahlende Beiträge variieren von Ort zu Ort und von Kommune zu Kommune erheblich.
Während Eltern in Berlin gar keine Beiträge zahlen müssen, kann ein Kitaplatz im Münchner Umland satte 600 Euro monatlich kosten. Manche Ratgeberseiten empfehlen jungen Familien sogar, in den Nachbarort umzuziehen, um Kitagebühren zu sparen. Schnell kann die Kinderbetreuung für Familien so zur finanziellen Belastung werden.
Davon berichtet auch Claudia E. aus Scheuring in Landsberg am Lech: Monatlich gibt die kleine Familie für Ludwigs Kitaplatz zwischen 340 bis 350 Euro aus. Das kann sie durch das Familiengeld ausgleichen, das seit dem 1. September 2018 jeder Familie in Bayern zusteht. Ist das Kind zwischen zwei und drei Jahre alt, erhält jede Familie 250 Euro pro Kind, ab dem dritten Kind gibt es weitere 300 Euro. Außerdem gibt es einen Krippenzuschuss von 100 Euro pro Kind, das in die Kita geht.
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In Sachsen (und dem Landkreis Sächsischen Schweiz-Osterzgebirge) dagegen geben Eltern laut einer aktuellen Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung im Schnitt 5,1 Prozent ihres Haushaltseinkommens für die Kinderbetreuung aus. Doch auch hier gibt es große Unterschiede: Zwar übernimmt das Bundesland einen Teil der anfallenden Betriebskosten der Kitas und entsprechende Beiträge orientieren sich an den gesamten Kosten. Anschließend wird jedoch ein Prozentsatz auf die Eltern umgelegt, der vor allem für Geringverdiener:innen und Alleinerziehende ein Problem darstellen kann. Manche Familien geben so knapp 10 Prozent ihres Haushaltseinkommens für die Kinderbetreuung aus.
Was viele dabei nicht wissen: Kosten für Tagespflegepersonen bzw. Tagesmütter können genauso abgerechnet werden wie Kitaplätze. „Wir Tagesmütter sind gleichgestellt mit Kitaplätzen“, sagt Ilona R. aus Rabenau. „Als Alternativbetreuung. Das muss nicht privat gezahlt werden, wie es früher einmal war.“ Fragt man sie danach, ob sie sich Verbesserungen wünscht, was ihre Arbeitssituation betrifft, muss sie lange überlegen. „Ich mache meine Arbeit so gerne“, sagt sie. „Das einzige, was noch nicht wirklich gut geregelt ist, ist die Urlaubsvertretung. Oder Vertretung im Krankheitsfall. Dann müssen die fünf Kinder irgendwie untergebracht werden, wenn nicht gerade Großeltern einspringen können.“ Tagesmütter im Bereitschaftsdienst gebe es kaum, denn das könnten sich nur große Kommunen wirklich leisten.
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Text: Laurie Stührenberg
Laurie füllt quasi seit sie schreiben kann Tagebücher mit
Ideen und Beobachtungen. Während ihres Studiums in Germanistik und Sozialwissenschaften
an der Humboldt-Universität zu Berlin ging es nach Helsinki und Griechenland,
danach nach Mexiko. Stationen auf dem Weg zum Journalismus-Master an der Uni
Leipzig waren außerdem: Landesstudio ZDF Berlin, couchFM, rotkel Textwerkstatt,
Suhrkamp Verlag. Aktuell studiert sie ein Semester an der Universidad
Complutense de Madrid.
Grafiken: Manon Scharstein
Manon zeichnet schon seit geraumer Zeit, nahm jedoch nach der
Schule einen
kleinen Umweg, um einen Bachelor in Filmwissenschaft an der
Freien Universität Berlin zu
absolvieren. Während ihrer Zeit in Berlin hatte sie Ausstellungen im Frieda
Frauenzentrum, dem ORi und der Kollektivbar Ich+Es. Seit 2019 studiert sie
Kommunikationsdesign an der Hochschule der Bildenden Künste Saar.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Deutschland-Doppels – eines Gemeinschaftsprojekts des Studiengangs M.Sc. Journalismus der Universität Leipzig und der Redaktion MDR WISSEN aus Anlass von 30 Jahren Wiedervereinigung.
Bildnachweis: S. 6 imago/Frank Sorge
© MDR WISSEN 2020
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