Neukieritzsch bei Leipzig. Solarmodule so weit das Auge reicht. Im Hintergrund thront das Braunkohlekraftwerk Lippendorf; in der Luft der Lärm der Kohlebagger, die sich nebenan in die Erde fressen.
Hier liegen Superlative nah beieinander: der größte Solarpark Deutschlands im drittgrößten Kohlegebiet – es wird Kohle gefördert und Sonnenenergie geerntet. In der von der Braunkohle gezeichneten Gegend planen immer mehr Akteure mit Solar- und Windenergie.
Seit mehr als 300 Jahren wird in der Leipziger Tieflandsbucht Braunkohle aus der Erde geholt. Flüsse wurden umgelegt, Auen gerodet und Orte abgebaggert. Übrig sind meist nur noch die Namen dieser Orte – in den Bezeichnungen der Tagebaue und später im Namen von Baggerseen oder anderen Folgelandschaften. So ist es auch im Fall des Ortes Witznitz. Erst gab es dort eine Grube, dann den gleichnamigen Tagebau.
Jetzt gibt es hier den "Energiepark Witznitz" – ein riesiges Solarfeld, auf dem aus Sonnenenergie Strom erzeugt wird. Den Ort gibt es längst nicht mehr.
Die Solar-Freiflächenanlage ist die derzeit größte in Deutschland. Manche meinen sogar: in Europa. Der Energiepark Witznitz umfasst 500 Hektar. Der Projektentwickler und Betreiber des Energieparks, die "Move On Energy", hat auf dem Gelände rund 30 Kilometer entfernt von Leipzig rund 1,1 Millionen Solarmodule aufgestellt, 207 Trafostationen und vier Umspannwerke aufgebaut, 3.500 Wechselrichter installiert, 1.065 Kilometer Solar-, Niederspannungs- und Mittelspannungskabel verlegt und einen rund 23 Kilometer langen Zaun um die Anlage gezogen. In der Spitze waren dem Unternehmen zufolge etwa 500 Arbeitskräfte zeitgleich im Einsatz.
Unter Idealbedingungen leisten die 1,1 Millionen Module laut Move On Energy 650 Megawatt Peak Spitzenleistung. Laut Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme (ISE) wird der Energiepark eine Menge von voraussichtlich 600 Gigawattstunden erzeugen. Das würde laut ISE für mehr als 360.000 Ein-Personen-Haushalte im Jahr reichen. Move On energy spricht von 200.000 Vier-Personen-Haushalten – nur dass dieser Strom nicht für den privaten Verbrauch gedacht ist, dazu später mehr. Ende Dezember 2023, knapp eineinhalb Jahre nach dem ersten Spatenstich, waren die ersten rund 109 Megawatt am Netz.
sollen es ab dem 3. Quartal 2024 sein.
Allein bis Mitte Juni 2024 wurden rund 200 Gigawattstunden (GWh) ins Überspannungsnetz des Betreibers 50 Hertz eingespeist.
Angesichts der Größe und Gesamtleistung spricht das Umweltministerium daher auch von einem beispielhaften Projekt. Ungeachtet dessen ist der Freistaat laut Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme bei der Solar-Leistung pro Kopf noch weit von den führenden Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt entfernt.
Die Fläche des Solarparks zwischen der Gemeinde Neukieritzsch, der Stadt Böhlen und der Stadt Rötha ist riesig. Move On Energy bewirtschaftet 500 Hektar. Das Unternehmen hat darauf unter anderem 70 Hektar Blühstreifen eingeplant, dazu Hecken mit einer Länge von 21 Kilometern. 95.000 Pflanzen wurden zur Einpflanzung vorgesehen, dazu 25 Kleingewässer, die Erst- und Neuaufforstung von Waldflächen, rund 200 Nistkästen, 200 Sommer-Quartiere für Fledermäuse, Nistkobel für die Haselmaus, eine Brutinsel für Seeschwalben am Hainer See sowie Reit- und Wanderwege.
Entlang der Wirtschaftswege stehen Ständer für Greifvögel. Auf Freiflächen gibt es Stein- und Totholzhaufen und kleine Tümpel. Für größere Tiere wurden sogenannte Freihaltungskorridore eingerichtet; Füchse, Hasen und Igel passen gut unter den Drahtzäunen durch. Büsche und Grünstreifen wurden entrümpelt und tierfreundlich gestaltet.
Dabei seien keinerlei Umweltauflagen zu beachten gewesen, betont der Technische Leiter von Move On Energy, Wolfgang Pielmaier. Der Betreiber von Witznitz will nach eigener Darstellung größere Auswirkungen auf Flora und Fauna vermeiden.
Was auf der Freifläche geschieht, das interessiert auch Politik und Wissenschaft. Immer wieder besuchen deren Vertreter Neukieritzsch. Pielmeier glaubt, durch die Besuche hat die Politik ein Verständnis dafür bekommen, was sich künftig bei solchen Projekten ändern müsse. Inzwischen plant das sächsische Umweltministerium einen Leitfaden für Freiflächen-Solarparks. Er soll Vorschläge enthalten, wie die Biodiversität auf den Flächen verbessert werden kann.
Ob sich aber tatsächlich Wiedehopfe auf einer eigens geschaffenen Habitatfläche heimisch fühlen werden, muss sich noch zeigen. Der Vogel ist inzwischen sehr selten in Sachsen. Bei allen Vorkehrungen, die möglicherweise der Biodiversität vor Ort zuträglich sind: Solarfelder können auch Tiere vergrämen. Laut Bundesamt für Naturschutz (BfN) beispielsweise Wiesenbrüter.
Kiebitze oder Braunkehlchen mögen laut BfN-Sprecherin Ruth Birkhölzer die vertikalen Strukturen nicht. Auch Feldlerchen bräuchten offene Flächen zum Brüten, sagt Tomas Brückmann von der Sächsischen Landesstiftung für Natur und Umwelt. Steinschmätzer und Schwarzkehlchen wiederum sind Brückmann zufolge nachgerückt und brüten derweil zwischen den PV-Modulen.
Was das Verdichten von Bodenstrukturen angeht – hier hat das Umweltbundesamt kaum Bedenken: Ein Solarpark sei mit einer normalen landwirtschaftlichen Flächennutzung vergleichbar, sagt Ulrike Würflein vom Umweltbundesamt. Tomas Brückmann von der Sächsischen Landesstiftung für Natur und Umwelt (LaNu) meint:
Heizen die Module die Böden auf?
Diese Frage bewegt die Anwohner, denn die Sommer in der Leipziger Tieflandbucht werden heiß. "Ein ganz klares Nein", sagt Pielmaier und verweist zugleich auf weitere Beobachtungen. Eine Hitzebeeinträchtigung schließt Move On Energy aus – wenngleich die Luft in der unmittelbaren Modulumgebung durchaus Temperaturschwankungen unterliegen kann.
Diese Temperatur-Effekte können unter den Modulen laut Move On beobachtet werden:
Die Forschung kann noch keine Aussagen dazu treffen, ob sich beispielsweise die Böden unter den Modulen großer Solaranlagen und in umliegenden Gebieten erwärmen. Der Grund dafür ist einfach: "Zu den Aspekten Wärme und Strahlung fehlt noch Forschung. Die kommt aber, wenn mehr Solaranlagen gebaut werden", sagt LaNu-Sprecher Tomas Brückmann.
Blenden die Module?
Auch das fürchten die Anwohner. Sie sollten es aber nicht, denn für die riesige Freiflächenanlage wurden Move On Energy zufolge vorab Gutachten erstellt. Mit einem Simulationsprogramm untersuchten Gutachter, ob die Spiegelungen auf den Modulen blenden könnten. Die Blendwirkung falle "gering" bis "minimal" aus, so das Ergebnis. Die maximale Lautstärke des Energieparks im Betrieb liegt laut den Gutachten mindestens fünf Dezibel unter den erlaubten Werten für Wohngebiete.
Blockiert der Solarpark Flächen für Landwirtschaft oder Naturschutz?
Eher nicht. Der Solarpark steht auf Flächen, die nach dem Abbau von Braunkohle zwar wieder saniert wurden. Die Bodenwerte, die angeben, wie ertragreich ein Boden ist, liegen zwischen 19 und 24. Flächen mit dem Wert 0 sind nicht für die Landwirtschaft nutzbar. Der Maximalwert von 100 wird beispielsweise in der Börde erreicht.
Beeinträchtigt der Park die Grundwasserbildung?
Das ist nicht komplett geklärt. Der Südraum von Leipzig gehört zu den Regionen, in denen sich Fachleute viele Gedanken über Grundwasser und Wasserversorgung machen. Das liegt an der Kohleförderung. Laut Move On Energy wurde durch Begutachtung ausgeschlossen, dass die PV-Module die Wassersituation verschlechtern. Um sicherzugehen, gibt es zu dieser Frage aber ein weiterführendes Monitoring.
Der Energiepark ist ein Investment der Versicherungsgruppe "Signal Iduna". Sie hat über ihre Tochter "Hansainvest Real Assets" investiert, wie Christoph Lüken, Leiter des Bereichs Portfoliomanagement Infrastruktur bei Hansainvest Real Assets, erläutert. Die Versicherung habe sich Klimazielen verpflichtet und stecke deswegen Kapital in die erneuerbare Energiegewinnung. Warum, das erklärt er hier:
Dabei ist es Lüken zufolge gar nicht mehr so einfach, solche Projekte für die Geldanlage zu finden. Die Flächen seien begrenzt und die Nachfrage, auch aus anderen Branchen, sei hoch. Tatsächlich ist der Strom aus Witznitz bereits auf Jahre verkauft – an den Energiemulti Shell:
Shell geht es laut einer Sprecherin seit geraumer Zeit darum, nicht mehr nur mit Öl zu handeln. Shell investiere beträchtlich in CO2-arme und -freie Produkte und Angebote wie etwa grünen Wasserstoff, Wind- und Solarstrom, Biokraftstoffe und E-Charging, so die Sprecherin im Gespräch mit MDR AKTUELL. Das Ziel: Der britische multinationale Energiekonzern will bis 2050 ein sogenanntes Netto-Null-CO2-Unternehmen sein, also CO2-neutral wirtschaften. Zu großen Teilen weiterverkauft hat Shell den Strom aus dem Energiepark Witznitz übrigens an Microsoft.
Die Einwohner von Neukieritzsch, Borna und Rötha leben in einer vom Bergbau und nun auch von Solarmodulen geprägten Landschaft. Die Kommunen profitieren vom Solarpark, sind aber trotzdem unzufrieden. Der Energiepark Witznitz ist ohne staatliche Förderung entstanden. Die Betreiber müssen daher nicht die im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) empfohlenen 0,2 Cent je Kilowattstunde an sie ausschütten.
Die Betreiber beteiligen die Kommunen dennoch: über eine Stiftung. Diese verteilt einen Teil der Gewinne aus der grünen Energieproduktion an soziale und kulturelle Projekte der Anliegerkommunen. 2023 – als noch kein Strom floss – waren das rund 138.000 Euro. Dieses Geld steht den Anliegern nicht frei zur Verfügung, es muss beantragt werden. Die Beteiligung auf Grundlage des EEG wäre ungleich höher.
Der Widerstand gegen neue Projekte wächst daher vor Ort. Zuletzt haben den auch die Akteure hinter dem Energiepark Witznitz zu spüren bekommen. Mit dem "Green Power Park Lobstädt" und den "Energiepark Kleinzössen" planen sie zwei Projekte in direkter Nachbarschaft.
Die Pläne sind energie-strategisch zukunftsgerichtet: Neben weiteren Solarflächen sollen auch ein Elektrolyseur gebaut und ein Großverbraucher angesiedelt werden. Die erzeugte Energie würde den Ort nicht verlassen. Ein Elektrolyseur würde sie in Form von Wasserstoff speichern.
Einige Neukieritzscher sind dennoch skeptisch. Zwar geht es laut Bürgermeister Thomas Meckel um eine Zwei-Milliarden-Investition. Von dem Geld würde einiges im Ort hängen bleiben. Aber die Menschen wollen mehr, auch mehr Mitbestimmung. Eine Bürgerinitiative hat sich gegründet, einen Bürgerentscheid angestrengt. Eines ihrer Argumente: die Gemeinde habe bereits genug Flächen für derartige Projekte zur Verfügung gestellt.
Dass die Anwohner mitreden wollen ist normal, wenn man der Akzeptanz-Forscherin Gundula Hübner, Professorin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, folgt. Es sei eben wichtig, dass die Menschen beteiligt würden, sagt sie. Sowohl finanziell als auch als "Experten für ihre Heimat", also schon in der Planung.
Der Entscheid scheitert. Die Beteiligung ist zu gering. Auch das wiederum ist laut Aktzeptanzforscherin Gundula Hübner nicht außergewöhnlich. Nach ihren Erkenntnissen verhält sich die Mehrheit der Bevölkerung bei Erneuerbare-Energien-Projekten neutral oder ist dafür – schweigt aber. Die Investoren jedenfalls können ihr aktuelles Projekt weiter vorantreiben.
Das Vorhaben reiht sich indes ein in all die Maßnahmen, die den Strukturwandel in der Region bedeuten. Diese steht kurz vor dem Ausstieg aus der Kohle, der ganze Landstriche und Ortschaften zum Opfer gefallen sind. Ihre Zukunft liegt unter anderem in der Produktion grüner Energie.
Rund um Neukieritzsch in der gesamten Region südlich von Leipzig entstehen neue Solargebiete und werden Windkraftanlagen geplant.
Bei allen Projekten bekommen auch Kreise, Anwohner und Nachbarkommunen die Möglichkeit, Einwände und Vorschläge einzubringen. Frank Rösel ist Bürgermeister von Pegau, einer Kleinstadt mitten im Kohlerevier. Die Kommune plant einen Windpark mit acht Windrädern, hier noch nicht eingezeichnet. Rösel sagt:
Der Handlungsdruck hat einen Grund: Bis 2027 müssen alle Bundesländer 1,4 Prozent ihrer Fläche für Windenergie ausweisen. Bis 2032 dann zwei Prozent. Sachsen will dieses Zwei-Prozent-Ziel um fünf Jahre vorziehen. Wenn die Kommunen sich bis 2027 nicht entscheiden, wo Windräder hin sollen, könnte das vom Regionalen Planungsverband früher oder später über ihre Köpfe hinweg geplant werden.
Ein weiterer Anreiz spricht für den selbstbestimmten Ausbau von Wind- und Solarkraft: Paragraf 6 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes EEG. Er regelt die finanzielle Beteiligung von Kommunen am Ausbau der Windenergie. Frank Rösel erwartet auf dieser Grundlage 0,2 Cent pro Kilowattstunde, die ins Gemeinde-Säckel fließen könnten.
Hinzukämen mögliche Steuereinnahmen – wenn beispielsweise noch die Betreibergesellschaft ihren Sitz in Pegau hat. Um die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern zu steigern, denkt die Kommune über verschiedene Optionen nach: Ladesäulen, eine Pegau-Card für günstigeren Strom – Ideen gibt es viele.
Das Kraftwerk Lippendorf hat zwei Betreiber, die LEAG und EnBW. Sie müssen überlegen, wie es an diesem Standort weitergeht. Denn spätestens 2035 ist hier laut LEAG gemäß Kohleverstromungs-Beendigungsgesetz Schluss mit Kohleverstromung.
Das Kraftwerk Lippendorf steht im Industriepark Lippendorf. Im vergangenen Jahr hat es mit seinen beiden Blöcken insgesamt 7.759 Gigawattstunden Strom erzeugt.
Strom wurden 2022 im Kraftwerk Lippendorf erzeugt.
Während die EnBW noch an Plänen arbeitet, gibt es bei der LEAG schon konkretere Vorstellungen. Sie will ein Wasserstoff-Kraftwerk mit einer installierten Leistung von knapp 900 MW neu errichten, das Ende der 2020er Jahre in Betrieb gehen soll, sagt ein Sprecher. Zum Vergleich: Die beiden Blöcke des Kraftwerks Lippendorf haben je 875 MW installierte Leistung. Außerdem soll ein Elektrolyseur für die Herstellung von grünem Wasserstoff installiert werden.
Auch zwölf Kilometer vom Energiepark Witznitz entfernt drehte sich früher alles um die Braunkohle. 2006 wurden in Thierbach/Borna die Kühltürme eines alten Kraftwerkes gesprengt. Jetzt will dort das Unternehmen HH2E grünen Wasserstoff produzieren. Noch vor 2030 soll dieser an industrielle Großverbraucher in der chemischen Industrie und an kommerzielle Betreiber von Luft- und Bodentransportmitteln geliefert werden. Ein weiteres Beispiel, das vor Augen führt, wie die Energiewende in der Region ablaufen soll.
Über ein eigens für den Park entwickeltes Umspannwerk wird die erzeugte Energie direkt ins 380-Kilovolt-Hochspannungsnetz des Betreibers 50 Hertz eingespeist.
Wie beeinflusst der riesige Solarpark die Stromerzeugung?
Welche Umweltfolgen hat der riesige Solarpark?
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Ein Angebot von MDR AKTUELL
Text und Gestaltung: Anja Neubert
Zuarbeit und Recherchen:
Björn Menzel Pierre Gehmlich Rebecca Nordin Mencke Claudia Reiser Lucas Grothe Anke Werner Anja Neubert
Reel-Produktion: Anke Werner, Tim Schulz, Marius Dahmen
Redaktion: Piet Felber-Howitz