Von Elena Burbach, Theresa Gunkel, Kristina Hammermann und Niko Nowak Nach uns die Wende Gibt es 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer eine ostdeutsche Identität?
Von Elena Burbach, Theresa Gunkel, Kristina Hammermann und Niko Nowak Nach uns die Wende Gibt es 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer eine ostdeutsche Identität?
Die Psychologie beschreibt den Begriff der „Identität“ mit der Art und Weise, wie sich eine Person selbst in ihrem Inneren als Einheit wahrnimmt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird die Identität eines Menschen oft auf bestimmte Zuschreibungskategorien wie Alter, Beruf und Herkunft verkürzt. Dabei finden wir heraus, wer wir selbst sind, indem wir uns von anderen abgrenzen. Wir sind jung oder alt, reich oder arm, ostdeutsch oder westdeutsch. Doch Identität ist ein dynamisches Konstrukt, das sich keineswegs nur über die Herkunft eines Menschen erklären lässt. Sie formt sich im Laufe eines Lebens und verändert sich.
Die Kategorie „ostdeutsch“ ist deshalb nur ein Teil des großen Mosaiks einer Persönlichkeit. Doch das geteiltes Selbstverständnis der Nachwendegeneration sagt viel über die tatsächliche Einigkeit in diesem Land aus. Fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung lohnt es sich deshalb, genau darauf zu schauen. Wir haben mit sieben jungen Menschen gesprochen, die nach der Wende in Ostdeutschland aufgewachsen sind, um herauszufinden, was die “ostdeutsche Identität” für sie im Jahr 2019 bedeutet.
„Was für ein ‘drüben’?”
Zum Anfang Zum AnfangAuch Daniel Müschen aus Aschersleben findet, dass die ostdeutsche Wirtschaft immer noch nicht mit der gesamtdeutschen gleichauf ist. Er arbeitet in einem weltweit agierenden Unternehmen in Sachsen-Anhalt. Doch selbst innerbetrieblich stellt er Unterschiede zwischen Ost und West fest.
„Ich identifiziere mich als ‚ostdeutsch‘ – aber nicht im negativen Sinne! Ich finde es hier schön. Klar reise ich viel und bin oft im 'Westen’ bei meiner Verwandtschaft, aber Identität macht für mich aus, wo man sich Zuhause fühlt. Und das ist für mich Aschersleben. Für die richtigen Gründe würde ich auch wegziehen, aber das hat nichts mit Ost-West oder der wirtschaftlichen Lage zu tun. Obwohl Ostdeutschland dahingehend ein bisschen hinterherhinkt. Aber ich bin festangestellt und verdiene hier sehr gut. Das einzige, was ich nicht verstehe: Wieso kann jemand im Osten für dieselbe Arbeit nicht dasselbe verdienen wie jemand im Westen? Selbst innerhalb eines Betriebes gibt es da Unterschiede. Das Unternehmen, für das ich arbeite, hat auch einen Standort rund 100 Kilometer weiter in Niedersachsen, also im Westen. Die Mitarbeiter dort gehen weniger Stunden arbeiten, verdienen aber mehr als wir – trotz Tarif und allem. Das finde ich unfair.
Aber ich will nicht meckern, das machen die Menschen im Osten schon genug. Vielen ist gar nicht bewusst, wie gut es ihnen geht. Die schimpfen immer: 'Früher war alles besser‘. Dann frage ich: ‘Was war denn besser? Früher durftest du nirgends hinfahren, keinen Urlaub machen oder einfach ein Haus bauen und musstest ewig auf Dinge warten.' Früher war definitiv nicht alles besser! Mit meinen Eltern habe ich nie groß über DDR und BRD geredet und auch in meiner Generation ist das kaum Thema. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass Deutschland weiter zusammenwächst und die Mauer auch endlich aus den Köpfen verschwindet.
Manchmal wird man darauf reduziert, dass man aus dem Osten kommt. Und von oben herab als 'dummer Ossi' betrachtet. Dieses Ost-West-Gehabe nervt! Außerdem gibt’s im Westen auch Unterschiede: Ein 'Nordlicht' hat ebenfalls eine andere Mentalität als ein Schwabe oder Bayer. Bei solchen Vorurteilen denke ich auch oft an die Ausländerfeindlichkeit im Osten. Viele Menschen hier haben Angst vor dem vermeintlich 'bösen schwarzen Mann' – haben dabei aber noch nie einen Ausländer aus der Nähe gesehen und fliegen jedes Jahr in die Türkei, um dort im all-inclusive-Hotel Urlaub zu machen. Das finde ich nicht okay! Ich denke, dass viele unreflektiert ihren Eltern nachplappern. Ich finde: Arschlöcher gibt's überall. Das hat nichts mit Herkunft zu tun, sondern mit Erziehung.“
„Mit meinen Eltern habe ich nie groß über die DDR gesprochen”
Zum AnfangAuch Janine Freitag findet, dass das Leben in der DDR nur wenig bis gar nicht in der Schule thematisiert wird. Sie ist eine junge Geschichtslehrerin an einer Schule in Sachsen-Anhalt und erzählt, woran das liegen könnte.
„Die DDR ist zwar im Lehrplan vorgegeben, ist aber kaum zu schaffen. Das liegt daran, dass die neunten und zehnten Klasse proppen voll sind. Der Erste und Zweite Weltkrieg nehmen am meisten Platz ein. Nach der NS-Zeit folgt deutsch-deutsche Geschichte, Aufteilung Deutschlands und Mauerbau. Die DDR wird erst am Ende des Schuljahres behandelt, wenn dafür noch Zeit ist. Als ich Schülerin war, hatten wir das Thema jedenfalls nicht mehr geschafft. Auch als ich nach der 10. Klasse auf ein Gymnasium gewechselt bin, wurde das dort wenig thematisiert.
Wenn ich mit meinen Schülern das erste Mal über Ostdeutschland rede, dann schauen die mich komisch an, weil ich 'Ostdeutschland' sage. Sie haben das zwar schon mal gehört, aber fundiertes Kenntnisse darüber haben die natürlich nicht. Die wissen erst einmal nur, dass Berlin geteilt war, dass die Sowjetunion immer alles verboten hat und dass es die Amerikaner gab, die alles mitgebracht haben und weswegen sie die als 'cool' empfinden. Dann gibt es da noch vereinzelt die ganz Interessierten, die auch noch viel mehr wissen.
Aber die meisten juckt es wirklich gar nicht, denn 'Mama sagt ja immer: Uns ging’s damals gut'. Meiner Familie ging es in der DDR ebenfalls gut und zu den ‘Wendeverlierern’ zählen sie auch nicht. Die hatten alle immer Arbeit. Mit meinen Eltern habe ich aber nie groß über die DDR gesprochen. Mit meiner Oma schon öfter, aber nur, weil sie ähnliche Sachen gemacht hat wie ich, zum Beispiel in Thüringen studiert.
Apropos Studium: Da ist mir das erste Mal aufgefallen, dass ich anders aufgewachsen bin. Ich hatte häufig das Gefühl, dass Studierende aus Bayern oder Baden-Württemberg eine viel bessere Schulbildung erhalten haben – die mussten weniger lernen und kannten vieles schon. So habe ich es zumindest empfunden. Dahingehend sollte das Schulsystem bundesweit auf jeden Fall angepasst werden! Viel über die DDR und wie es heutzutage in Ostdeutschland aussieht, wussten die trotzdem nicht. Generell bietet das Studium aber eine gute Gelegenheit, 'andere' Menschen kennenzulernen. Dadurch nimmt man neue Perspektiven ein. Das prägt natürlich und lässt darüber nachdenken, generell europa- und weltoffener zu sein.
Kurioses Phänomen: Ostdeutsche ziehen einander wie Magnete an, auch wenn man sich selbst keine ‘ostdeutsche Identität’ zuschreibt – so war das auch bei meinem Mann, der in Bayern studiert hat. Klar haben wir auch Freunde aus Westdeutschland. Aber vielleicht gibt’s da doch noch Mentalitätsunterschiede? Sind wir untereinander offener? Sind es unsere ähnlichen Dialekte? Beschreiben kann ich das nicht genau – es ist einfach ein Gefühl.”
„Wenn das die Wessis sind –
Zum AnfangEiner, der den Glauben an die Politik nicht aufgegeben hat, ist Tom Pannwitt. Schon während seiner Ausbildung zum Mechatroniker wollte er mitreden, wenn es um Fragen ging, die seine Zukunft beeinflussten. Er trat in die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft ein, dann in die SPD. In diesem Jahr kandidierte der 30-Jährige das erste Mal für den Leipziger Stadtrat im Nordosten. Politiker*innen müssten, so sagt er, ein Verständnis für die Vergangenheit Ostdeutschlands mitbringen, um die Sorgen der Menschen verstehen zu können. Für ihn ist Ostdeutschland ein Teil seiner Identität - wenn auch nicht der offensichtlichste:
“Ich glaube in unserer Generation gibt es zu 90 Prozent Schnittmengen”
Zum Anfang„Ich habe mich darüber aufgeregt, wie über Ostdeutsche gesprochen wurde, wie man Menschen in einen Topf geworfen hat – auf einmal sind alle rechtsradikal, Pegida-Anhänger und AfD-Wähler. Ich dachte, dazu muss es einen Gegenpol geben.“
„Identität bedeutet für mich, wie man sich selbst sieht und auch wie man sich selbst gerne sehen möchte. Zu meiner eigenen Identität gehören meine Werte, meine Interessen, die Dinge, für die ich mich einsetze. Zu meiner Identität gehören auch biografische Elemente, etwa wo und unter welchen Umständen ich aufgewachsen bin. Meine Herkunft ist Teil meiner Identität, aber sie macht mich als Person nicht aus. Auf meine Herkunft will ich nicht reduziert werden. Allerdings haben die Erfahrungen, die ich aufgrund meiner Herkunft gemacht habe, mich und meine Arbeit geprägt.
Themen wie Rassismus und Sexismus sind mir seit jeher sehr wichtig. Ich habe angefangen, mich mit diesen Formen von Diskriminierung auseinanderzusetzen – anfangs noch auf kreative, künstlerische Weise als Poetry Slammerin –, um mir selbst klar zu werden, was da mit mir passiert. Ich komme aus einem kleinen Ort. In meinem Jahrgang war ich damals die einzige nicht weiße Schülerin. Hinzu kommt, dass ich in einer Gegend aufgewachsen bin, in der es schon immer starke Nazi-Strukturen gab. Diese Umstände haben mich dazu bewegt, was dagegen machen zu wollen. Ich habe angefangen, mich für Jugendarbeit zu interessieren.
Rassismus gibt es auch in Westdeutschland. Im Osten hat Rassismus allerdings eine spezifische Ausprägung. Wenn ich in ostdeutschen Kleinstädten wie der Stadt, aus der ich komme, bin, sehe ich, dass die Leute wirtschaftlich abgehängt sind, dass viele Leute oftmals von Hass erfüllt sind. Ich versuche, das aber nicht zu pathologisieren und zu sagen 'Ach, die armen Wendeverlierer'. Nichts entschuldigt nationalistisches und rassistisches Verhalten.
Es ist außerdem ein Trugschluss, zu sagen, Rassismus sei ein Problem der Älteren. Rassismus gibt es auf jeden Fall auch bei unter 30-Jährigen, bei Nachwendekindern. Vor kurzem gab es einen Fall in Thüringen. Schüler trugen bei einer Schulfeier auf ihrer Kleidung rechtsextreme Symbole. Die Lehrer haben es einfach nicht bemerkt und genau diese Blindheit ist das Problem. Man muss realisieren, dass es ein Naziproblem gibt, bevor man es bekämpfen kann. Es muss Schulungen geben, die Lehrern zeigen, wie man die Codes erkennt, wie rechtsradikale Strukturen aufgebaut sind. Man sollte junge Leute in ihren Anliegen ernst nehmen. Wenn man das nicht tut, geschieht es einem wie traditionellen Medien und der CDU nach Rezo. Gleichzeitig sollte man auch nicht auf rechte ‚Wutbürger‘ hereinfallen wie viele Medien bei Pegida.“
Foto: Nhi Le